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Willkommen in Dystopia

Indiens Ziegelproduktion

Als wir das Hotel in Vrindavan erreichen, müssen wir unsere Taschen und vor allem unsere Kamerausrüstung gründlich kontrollieren. Der Strom geht weg ….

Die Straßen des Ortes gleichen einer Flusslandschaft und es regnet immer noch. Als wir vor gut zwei Stunden am Ortseingang das Taxi verlassen haben, deutet nichts darauf hin, dass sich die Wetterlage so schlagartig ändern würde. In den Straßen suchen die Menschen Schutz vor den Wassermassen. Etwas überwältigt und etwas verloren wirkend, winkt man uns freundlich in einen großen Hauseingang, wo wir gemeinsam mit Anderen ausharren.
Langsam nimmt der Regen ab, was wir als Gelegenheit sehen uns weiter zu unserer Unterkunft vorzuarbeiten.
Die Menschen hier sind Monsunzeiten gewöhnt, das hier ist jedoch etwas außerplanmäßig, was wir am nächsten Morgen in Vollendung sehen werden.

Der Strom ist wieder da, jedenfalls für knappe zehn Minuten. Bis Vrindavan wieder zuverlässig am Netz ist, vergehen noch ein paar Stunden. Zuverlässig hat hier jedoch nicht immer was mit dem Wetter zu tun, sondern scheint, wie in vielen Teilen Indiens eher an der maroden Infrastruktur zu liegen. Der Regen hat hier nur nochmal einen drauf gesetzt. Die Zeit reicht uns jedoch um festzustellen, dass wir keine technischen Schäden an der Ausrüstung zu beklagen haben und lediglich Achims Kleidung etwas naß geworden ist. “Waterproof” versprach hier der Hersteller selbstbewusst, machte aber anscheinend keine weitreichenden Test in diesem Teil der Welt.

Nach einer kurzen Nacht packen wir unsere Kameras ein und nach einem wunderbaren Frühstück auf der Straße und einem Chai, sitzen wir in einem Taxi und lassen den Stadtkern hinter uns. Vor den Toren der Stadt wird deutlich, was für Wassermassen da gestern runtergekommen sind. Teilweise sind die Straßen immer noch überflutet. Nach einer guten Stunde über holprige Pisten tauchen am Horizont die ersten langen, dünnen Schornsteine auf. Wie warnend erhobene Zeigefinger ragen sie in den Himmel.
Unser Fahrer wird langsamer und hält schließlich gegenüber einer Einfahrt. Durch die Einfahrt blickend, offenbart sich uns eine endlose Fläche hellbraunen Drecks. Beinahe künstlerisch wirkend ist der Dreck mit einer einzigartigen geometrischen Ordnung durchzogen. Leider ist diese Ordnung durch riesige überschwemmte Flächen an vielen Stellen gestört.

Wir sind auf dem riesigen Gelände einer Backsteinfirma angekommen. Hier ist der Bereich, wo Menschen von Hand und mit historisch anmutenden Werkzeugen und Holzschablonen, Lehm zu dem formen, was wir als typischen Backstein kennen. Sie werden geformt und nebeneinander in riesigen Feldern ausgelegt. Wenn die indische Sonne sie getrocknet hat, werden sie gestapelt und auf Traktoren verladen, bevor sie in direkter Nähe der langen Schornsteine in einem ausgeklügelten Backprozess ausgehärtet werden.

Keine Löhne:
Die Arbeit von Wochen und Monaten in einer Nacht zerstört …

Der Regen der vergangenen Nacht hat hier die Arbeit von Wochen und Monaten innerhalb von Stunden zerstört. Vielerorts sind die zum trocknen ausgelegten Roherzeugnisse zu formlosen Klumpen zerlaufen. An vielen Stellen versinkt die geschaffte Arbeit in lehmigen Seelandschaften. Auch die bereits ausgehärteten Lehmklötze die zum Abtransport bereit stehen sind teilweise miteinander zu einer dicken, lehmigen Masse verklumpt.

Was uns zuerst nicht auffällt ist die Tatsache, dass einige von den Lehmsteinstapeln Öffnungen haben und beinahe höhlenartig wirken. Gesäumt von Wäscheleinen und daran hängenden bunten Sarees wird uns klar, dass die Menschen die hier arbeiten aus den Lehmziegeln ihre Unterkünfte errichtet haben und hier in dieser dystopischen Landschaft leben.

Wir nehmen unsere Kameras und bewegen uns langsam durch den Eingang. Unseren Taxifahrer nehmen wir erstmal als menschliches Schutzschild mit, um Verbalattacken von Aufsehern oder Arbeitern abzuwehren. Zu unserer Überraschung treffen wir eine sehr entspannte Ansammlung von Menschen aller Altersklassen an, die sich um uns versammelt und minütlich größer wird. Das Interesse an einer Kontaktaufnahme ist glücklicherweise beidseitig.

Auch die Aufseher scheinen entspannt zu sein, was wahrscheinlich daran liegt, dass es aktuell auch keine Möglichkeit gibt die Arbeiter auf Trab zu halten. Wir verstehen, dass wir nach dem verheerenden Regenfällen einen Zustand der “Stunde Null” miterleben.

Bis hier wieder alles so trocken ist, dass man irgendetwas produktives mit den noch halbwegs intakten Lehmklötzen machen kann, werden Wochen vergehen. Wochen ohne Lohn, das bekommen wir schnell durch die ersten Gespräche mit. Geld gibt es hier nur gegen produzierte Lehmklötze.

Ich packe meine Kamera aus und beginne mit ein paar Aufnahmen. Die Kamera wird wohl das technisch ausgereifteste sein, was die Menschen um uns herum bisher gesehen haben und dementsprechend habe ich die volle Aufmerksamkeit, die ich als Fotograf eigentlich immer versuche zu vermeiden. Achim hat das Talent direkt in Gespräche einzusteigen und schafft hier gekonnt die nötige Ablenkung. Als Duo sind wir perfekt in diesen Situationen.

Backsteinformen:
Unsere Tischdeko – eigentlich ein Werkzeug für Akkordarbeit …

Ich schaffe es mich von der Gruppe zu lösen und erreiche über schlammige Flächen von denen ich annehme, dass es sich um Wege handelt, die Lehmfelder und mache ein paar Aufnahmen. Ein Mädchen steht mir am anderen Ende einer der sich gebildeten Wasserflächen gegenüber und wringt ihre Wäsche aus, die sie zuvor durch das lehmige Wasser gezogen hat. Sie lächelt und ich weine fast. Kinder laufen herum, nutzen die Zeit für Dinge die Kinder tun. Ohne das Unwetter der letzten Nacht würden sie hier jetzt kleine Schubkarren mit Lehmbrocken schieben und sich den Launen der Aufseher aussetzen. Wir sind an einem Ort, dessen Umgang mit Menschen, wir in unserem Wertesystem wohl als Sklaverei bezeichnen würden. Die Familien leben und arbeiten hier in diesem Dreck, drücken tausendfach den klumpigen Boden in die Formen, die wir bei uns
Zuhause in vielen Restaurants als trendige Schale für Salzstreuer und Servietten wiederfinden. Zwei ca. 30cm lange und zwei ca. 10cm breite Bretter, zusammengenagelt und mit einem metallischen Rand versehen, dienen hier in den Feldern als Akkord-Arbeitswerkzeug und landen irgendwann bei uns auf dem Esstisch als Deko.
Gesäubert von Schweiß und Blut der Menschen, die hier mit bloßen Händen jeden Tag arbeiten, stoppt die Geschichte über ihr Leid bei uns am geselligen Esstisch. Guten Appetit.

Mit Fotos auf der Karte, die nachdenklich machen, ob unsere Welt so funktionieren darf, kehre ich zu der Gruppe die sich um Achim versammelt hat zurück. Er hat mittlerweile soviel Dynamik in die Menge gebracht, dass er ähnlich wie ein Lehrer vor seinen Schülern steht und Fragen reinruft, die von einem Mädchen in Hindi übersetzt werden und die Antworten dann von ihr wieder in Englisch an Achim zurück gehen.
Saloni ist ungefähr 14 Jahre alt und beherrscht nur deswegen die englische Sprache, weil ihre Eltern von ihrem Hungerlohn den sie auf der Ziegelfarm erwirtschaften, das teure Schulgeld bezahlen. Geht sie zur Schule, formt sie keine Lehmklötze und der Familie steht dadurch natürlich weniger Geld zur Verfügung. Das die Eltern ihren Nachwuchs lieber mit in die Produktion einbinden liegt auf der Hand, verbaut aber jede Möglichkeit, dass die Kinder irgendwann mal aus diesem Kreis der Misere ausbrechen können. Ein Teufelskreis, den nur wenige Eltern
wahrnehmen, oder weil sie selber in der Ziegelfarm herangewachsen sind und eigentlich nicht wissen, dass es noch eine andere Welt ohne Aufseher und Lehmschablonen gibt.

Da wir absehen können, dass Saloni aufgrund der wohl fehlenden Löhne durch den Produktionsstop, die Schule wohl erstmal nicht besuchen wird, lassen wir ihr etwas Geld zurück. Die Freude ist riesig. Rechne ich mir den Wert in unsere Währung um, so würde kein 14-jähriger bei diesem Geldgeschenk auch nur mit der Wimper zucken. Aber so ist es eben, das hier ist ein anderer Planet – der Planet Indien.

Wir machen noch ein paar Fotos, bedanken uns für die nette Aufnahme und kehren zurück zu unserem Wagen. Eine Gruppe Kinder und junger Männer begleitet uns bis an den Ausgang, der aber wie es scheint nur für uns da ist. Die Gruppe bleibt am Ausgang stehen, zu unsicher ist die Möglichkeit, trotz der guten Stimmung, den Zorn der Aufseher auf sich zu ziehen.

Wir fahren einige hundert Meter weiter zu den Schornsteinen, weil wir uns auch ein Bild davon machen wollen, wie es mit den ausgehärteten Lehmbrickets weiter geht. Hier fühlen wir uns schon wieder etwas unsicher, ob man uns hier überhaupt fotografieren lässt.

Wie so oft in Indien gibt es Mittel und Wege sich das Wohlwollen zu erkaufen und so sind wir einige Zeit später mit einem Aufseher unterwegs auf dem Gelände, wo es entweder gestern Nacht nicht, oder weniger geregnet hat. Realistischer scheint uns, dass bereits durch die unfassbare Hitze der Brennerei alles getrocknet ist. Spuren des Unwetters sehen wir auf jeden Fall nicht. Wir lassen uns den Prozess des ausgeklügelten Brennkammer-Konzeptes erklären und ich beginne auch hier damit etwas umher zu laufen.
Unauffällig geht für mich, weiß, Vollbart, Glatze, tätowiert und über 1,80m, hier leider nicht mehr. Ich versuche zwar gestellte Aufnahmen zu vermeiden, aber man drängt sich förmlich auf, um auf die Fotos zu kommen. Ich bin interessiert an den Arbeitsschritten und die Arbeiter sind überglücklich, Fremden ihre Arbeit vorführen zu dürfen. Alles wird dennoch von Aufpassern beobachtet und es wird auch, zur unserer eigenen Sicherheit, nicht alles zugänglich gemacht.
Es ist für mich in der Reportage wichtig, den Leuten zu signalisieren, dass ich ihre Worte akzeptiere. Ein Verbot oder ein klares „Nein“ ist hier aber immer eine Aussage, die man nach einem kleinen Smalltalk oder etwas Geld, zu seinen Gunsten wegdiskutiert oder zumindest aufgeweicht bekommt und so stehen wir schlussendlich doch an den gigantischen Brennkammern.

Die ausgehärteten Lehmziegel, kommen mit Traktoren von den Feldern und werden so geschickt in einem großen kreisförmigen Graben mit ca. 80m Durchmesser gestapelt, dass die erzeugte Hitze von allen Seiten ausreichend an den Ziegeln vorbei strömt. Damit keine Hitze nach oben entweichen kann, wird die letzte Schicht der Backsteine mit Stroh abgedeckt. Nach dem Prozess haben die Ziegel ihre typische rote Färbung und werden für den Handel vorbereitet.

Kinder in Gefahr:
Der Schmale Grad über dem Abgrund …

Auch hier arbeiten Kinder, stapeln Steine und verteilen das Stroh über schmale Holzbohlen, die über den Schacht gelegt werden. Hier wird klar, welcher Gefahr diese Kinder ausgesetzt werden. Kommt man von den Stegen ab, fällt man in die Schächte zwischen die gestapelten Ziegel und im schlimmsten Fall verbrennt man. Die Schächte sind ungefähr 3 bis 4 Meter hoch und die Temperatur ist schon in unmittelbarer Nähe von Schachtrand, kaum zu ertragen.

Einer der Aufpasser hebt mir zum Schluss noch stolz einen fertig gebrannten Ziegelstein in die Kamera. Wir bedanken uns wie immer förmlich und machen uns mit ausreichend Gesprächsstoff wieder auf die Heimreise zu unserer Unterkunft.
Die Straßen werden mit immer größerer Nähe zur Stadt bebauter. Irgendwie schauen wir uns die Häuser, die meistens unverputzt die Straßen säumen, mit gemischten Gefühlen an. Der Blick auf die blanken Ziegelfassaden, die meist traditionell nach Augenmaß begradigt werden – also entsprechend nicht gerade sind und die Gebäude stets den Eindruck erwecken, sie seien noch in der Bauphase und etliche Ziegelsteine nebst anderen Baumaterialien achtlos umherliegen, wirken wie blanker Hohn gegenüber den Menschen, die mit Ihren Familien auf den Ziegelfarmen schuften.
Wer sich hier ein Haus bauen kann, schaut auch nicht die Straße runter, wo weniger gut situierte Menschen im Dreck wühlen, auch wenn man selber für jemanden arbeitet, für den man ebenfalls weniger gut situiert ist und in anderem Dreck wühlt. In Indien, dass wissen wir nach unseren Reisen, wird immer nach unten getreten. Ohne soziales Auffangnetz, ohne eine für alle zugängliche Bildung und ohne den Wert eines Menschenlebens zu akzeptieren.

Die größte Demokratie der Welt mit fast 1,5 Milliarden Menschen existiert neben unserer, als käme sie von einem anderen Stern. Zu groß sind die Unterschiede in Religion, Kultur und Sozialstruktur, als das wir dieses Miteinander verstehen können. Selbst nach so vielen Reisen zu diesem Stern, sind wir immer noch überrascht über die Ellenbogen-Mentalität, den fehlenden Respekt gegenüber dem weiblichen Geschlecht und die teils völlig ineffektive Art, Dinge zu konstruieren und zu realisieren und gleichzeitig werden wir überwältigt von der spirituellen Power der hinduistischen Religion, die hier im Mittelpunkt der Existenz steht und den Alltag prägt.

Indien wird zu einer Weltmacht aufsteigen. Die Grundsteine dafür wurden bereits gelegt. Es bleibt zu hoffen, dass die Bewohner Indiens ihren riesigen Graben zwischen unfassbaren Reichtum und der steinzeitlichen Armmut überwinden werden.

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